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Jäger ist ein Sammler

Autor

Roman Hilmer

Es klingelt. Jäger steht auf, geht zur Tür und drückt den Knopf. Er öffnet die Wohnungstür, hört wie die Haustür ins Schloss fällt, dann Schritte im Treppenhaus. Er lehnt im Türrahmen und betrachtet seine nackten Füße. Ein Paketbote dreht sich auf den vorletzten Absatz im vierten Stock, schaut nach oben, stöhnt kurz auf und steigt weiter. Jäger beobachtet die Schuhe des Boten, mit welcher Leichtigkeit sie die letzten zweieinhalb Höhenmeter überfliegen.

Für Jäger? Jäger blickt auf, blickt auf das Paket, dessen Abmessungen keinen Zweifel über den Inhalt zulassen: Eine Schallplatte. Die Schallplatte. Seine Schallplatte. Jäger nickt. Der Paketbote scannt das Paket, übergibt es und präsentiert wortlos ein Endgerät. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand gelingt es Jäger, ein J mit einer Welle zu verbinden. Bevor er jedoch einen horizontalen Doppelpunkt darüber setzen kann, befindet sich der Zusteller wieder auf dem Weg nach unten. Danke-tschüss. Tür zu. Jäger hält das Paket und betrachtet Vorder- und Rückseite. Obwohl er um den Inhalt weiß – er hat das Album bestellt und bereits mehrfach gestreamt – fühlt er kindliche Freude und Neugier in sich aufsteigen.

Ja! Auspacken: Plastikfolie. Das Cover. Die Innenhülle. Das Gewicht. Der Geruch. Die Schallplatte. Die A-Seite. Eine stereotype Abfolge von Bewegungen und Handgriffen bis zum ersten Ton. 33 1/3 Umdrehungen pro Minute, das leise Knistern, die Sensation der ersten Töne. Der erste Track. Zwischen den Stücken und während der leisen Stellen produziert der Apparat sein Klack! Klack! Klack! Die Rhythmusgruppe aus Teller, Riemen und Motor schlägt ihren eigenen Takt. Wie ein ignorantes Metronom, an dessen Off-Beat Jäger sich längst gewöhnt hat. Trotzdem lenkt das Klacken seinen Blick auf den hölzernen Körper und von dort auf die bunten Hüllen, die sich von links anlehnen. Wie viele das wohl sein mögen? Und im Regal? Und im anderen Regal? Über die Zeit war seine Sammlung groß geworden. Und raumfüllend. Aber war es überhaupt eine Sammlung oder nur dunkle Masse von Polyvinylchlorid, die seine Wände von innen isolierte? Wie viele Platten sind eine Sammlung? Was macht Platten zu einer Sammlung?

Jäger merkt, dass er abschweift und versucht sich wieder auf die Frage zu konzentrieren: Wie viele Platten sind es? Dreihundert? Dreitausend? Dreißigtausend? Mehr? Wie viele Jahre, wie viel Geld hat er investiert? Und wann kommt der Punkt, an dem nicht mehr genug Zeit sein wird? Genug Zeit, um die eigenen Alben alle noch ein einziges mal hören zu können? Von Anfang bis Ende? Er beginnt zu zählen, zu schätzen, zu überschlagen. Aber die Zahlen entgleiten ihm schnell, geraten in Bewegung, formieren sich zu einem pulsierenden Schwarm. Jäger spürt Panik in sich aufsteigen. Der Schwarm ändert seine Richtung und beginnt Jäger zu umkreisen. Plötzlich ist Stille. Absolute Ruhe. Jäger atmet nicht. Die Zeit steht still. Nur die Platte dreht sich unhörbar weiter und weiter und weiter.

Ein Knarzen, das die Nadel in die Endlosrille rutschen lässt, beendet die Unendlichkeit. Jäger atmet ein. Er atmet aus und taucht wieder in den Rhythmus der Zeit. Er betrachtet die Rückseite des Covers. Die zweite Hälfte der A-Seite hat er überhört. Er spürt eine Rest Dunkelheit in sich. Den Schatten der Schwarzen Sonne. Aber Jäger weiß sich jetzt wieder zu helfen. Er macht, was er immer macht, wenn es dunkel wird: Er überlegt, welches Album ihm noch fehlt.

Skizzen

Es war einmal eine Phase, in der war die Spieldauer wichtig. Damals dachte ich, 74 Minuten Musik wären besser als 49 Minuten. In dieser Phase kaufte ich nicht nur gute Tonträger. Heute weiß ich, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band dauert 39 Minuten und 43 Sekunden. A Love Supreme dauert 32 Minuten. Die Spieldauer ist dehnbar geworden: Bei The Life of Pablo änderte sich die Spieldauer zwischen Februar und April 2016 mehrmals.

Am Anfang war sie keine gute Schläferin. Ich las von Navid Kermani, der empfahl Last Trip to Tulsa. Das funktionierte bei uns nicht so gut. Wakin on a Pretty Day schien ihr mehr zu taugen. Wir lagen oft auf dem Sofa, ich auf dem Rücken, sie auf meiner Brust, um uns herum Dunkelheit. Die 9 Minuten 31 Sekunden bis zum Ende des Liedes haben wir eigentlich nie geschafft. Spätestens nach 6 Minuten 42 Sekunden schliefen wir beide und irgendwann war die Music over. Dann konnte ich sie und mich ins Bett bringen.

Nach ungefähr acht Minuten plötzlich ein paar langgezogene Vokale. Oder Konsonanten: „Mmmh! Mmmh! Mmmh!“ Und dann „Eh-ya! Everybody run run run! Eh-ya!“ und dann noch weitere acht Minuten Sorrow, Tears and Blood. Irgendwelche Plattenfirmen wollten aus Fela den nächsten Marley machen. Aber er weigerte sich, kürzere Stücke zu veröffentlichen. Schließlich hätten Händel, Bach oder Beethoven auch keine Dreiminutensongs geschrieben.

Irgendwann, vor der Pandemie: This ain’t a disco, it’s where we work. Wir waren eingetaucht in eine Kakophonie aus Geräuschen, die wir selbst erzeugten, die der Großraum noch verstärkte. Telefonate, Tastaturgeklapper, Gespräche, Lachen, Dampflanzen. Unsere Strategie: Fight fire with fire. Nahezu alle trugen Kopfhörer. So unterteilten wir mit Walls of Sound den Großraum in Sonic Cubicles. Ja, so arbeiteten wir. Heute, im Home Office, also wahlweise am Esstisch oder an einem halben Biertisch im Schlafzimmer, wundere ich mich, wie wir im Großraum überhaupt etwas zustande bringen konnten.

Manchmal, auf dem Nachhauseweg, dachte ich darüber nach, was ich im Großraum den ganzen Tag über gehört hatte. Oft konnte ich mich nicht mehr genau erinnern. An Strömungen und Umrisse schon. Irgendwelchen neuen Jazz, Call and Response, Afrobeat, irgendwas aktuelles, Türkische und arabische Musik aus den 70gern – aber nie konnte ich mich genau erinnern. Vielleicht war ich zu sehr im Fluss um bewusst zu hören (also produktiv?). Vielleicht aber war die Musik tatsächlich nur ein schalldämpfender Stream, der anstatt in mein Bewusstsein, in meine virtuelle Akustikwand geflossen ist...

„There is a proper procedure for taking advantage of any investment. Music, for example. Buying music is an investment. To get the maximum you must LISTEN TO IT FOR THE FIRST TIME UNDER OPTIMUM CONDITIONS. Not in your car or on a portable player through a headset. Take it home. Get rid of all distractions, (even her or him). Turn off your cell phone. Turn off everything that rings or beeps or rattles or whistles. Make yourself comfortable. Play your LP. LISTEN all the way through. Think about what you got. Think about who would appreciate this investment. Decide if there is someone to share this with. Turn it on again. Enjoy yourself.“ – Gil Scott-Heron

Verdammt, ich bin schon lange über die Stunde raus... Schluss jetzt!

Corona-Stress

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