Neun... acht... sieben... sechs... fünf... vier... drei... zwei... eins.... Zweitausend! Und jetzt? Nichts. Es passiert nichts. Zumindest nichts Ungewöhnliches. Was in Silvesternächten so passiert. Hier passiert weniger als nichts. Ich liege mit Grippe im Bett. Ich frage mich, ob kurz vor dem Herunterzählen ‘1999’ gespielt wurde und ob ihr noch im Keller seid. Ich sehe aus dem Fenster und sehe nichts. Nichts als Rauch. Am nächsten Morgen seid ihr zurück. Der Himmel ist grau, das Jahr beginnt bedeckt, aber die vorhergesagten apokalyptischen Möglichkeitswolken des Millenniums-Wechsels regnen nicht ab. Ein wenig Nieselregen, aber keine Y2K-Bugs, die sich auf unser System stürzten. Die Ampeln schalteten weiter von rot auf grün. Die S-Bahn fährt. Versprengte Silvesterraketen, das ja, aber keine Atomraketen.
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Mir fällt auf, dass die Leute hier mit Bierdosen unterwegs sind. Unterwegs Trinken. In der U-Bahn und auf den Straßen. Kauf mir ein Bier. Ich trink es dann bei mir. Ich steige ein, und bin dann gern allein. Den Blick beim Gehen nach unten gerichtet, der Hundescheiße wegen. Dann setzen sich Mobiltelefone und Hundekotbeutel durch. Die Leute schauen sich um, schauen sich an, blicken geradeaus. Für eine kleine Weile, denn dann kommen die Smartphones und die Blicke gehen wieder nach unten. Inzwischen haben fast alle nur noch eine Hand frei, oder gar keine mehr, Bier (oder Coconut-Wasser) in der einen, Telefon in der anderen. Die Blicke auf die Endgeräte gerichtet, die Gesichter erleuchtet, durch das blaue Licht der Bildschirme. Ich schaue heute mal nach oben. Blauer Himmel. Fünf Störche fliegen vorbei.
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Der Röhrenfernseher auf einem kleinen Turm aus roten Bierkisten im Konferenzraum hat einen okaygroßen Bildschirm. Heute ist er tatsächlich ein Fernseher. Wir sitzen davor und schauen zu, wie die Türme einstürzen. Es fällt uns schwer zu glauben, was wir sehen. Keiner von uns hatte damit gerechnet, dass sie einstürzen könnten. Selbst nachdem der erste in sich zusammenfällt, können wir uns nicht vorstellen, dass sein Zwilling folgen wird. So präzise in sich zusammenfallen wird. Du bist dort und glücklicherweise wohlauf. Du schickst Fotos von Rauchsäulen. Die Türme fallen dann noch oft. Im Laufe des Tages, durch die Nacht hindurch, in den darauffolgenden Tagen und Wochen, bis heute. Immer wieder. Im Fernsehen, im Kino, im Internet.
Für den nächsten Tag habe ich einen Flug gebucht und ich bin überrascht, dass ich auch tatsächlich fliege. Nicht, weil mein Personalausweis abgelaufen ist, sondern wegen der Türme, der Terroristen und der Amerikaner. Die Schlagzeilen und Artikel, die ich lesen kann, kommen meistens mit ungefähr zwei Tagen Verspätung auf der Insel an. Mit Verzögerung lese ich von Spekulationen, Fakten und Vergeltung.
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Apple ist schon lange auf dem absteigenden Ast, das PowerBook G3/266 irgendwie braun, aber trotzdem besonders. Die Zukunft gehört den Leuten, die mit kleinen Stiften auf ihren Palmpilots herumkritzeln. Wir fragen uns, wie Google wohl jemals Geld verdienen will. Wir verdienen Geld. Genug Geld für diese Art von Arbeit. Mit einem Kunden sitzen wir auf Bierbänken. Die quietschen und das Quietschen gibt unserer Diskussion über die Natur des Internets Struktur. Eine Art Rhythmus. ‘Natur des Internets’ – haben wir das wirklich gesagt!?. Wir sprechen über Zugang, Demokratie und Beteiligung. Dann kommt ein Vorgesetzter, ein Marketing-Chef, und ist völlig begeistert von der Sache mit den Fenstern: “CMD N öffnet ein neues Fenster? Können Sie mir das nochmal zeigen?“ Der Kunde ist wieder da. Er bittet mich, ein Problem auf seinem sehr kleinen Mini-Laptop zu beheben. Ich lösche seine Festplatte. Halb aus Unwissenheit, halb aus der Annahme, er habe seine Daten noch irgendwo anders abgespeichert. Missverständnis. Hat er nicht. Irgendwelche Business-Dokumente und irgendwelche Buddhismus-Dokumente, für immer im Nirwana. Jahre später gibt er mir die Hand und sagt „Inzwischen habe ich ihnen verziehen.” Google liefert keine Treffer zu dieser Begebenheit. ‘Googeln’ steht als schwaches Verb im Duden und mit Google verdient das Alphabet ordentlich Geld.
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Eine Kamera, eine Rolle Film, auf einem Dach, irgendwo in Manhattan. Ihr redet, ihr lacht, ich fotografiere. Hinter euch die Zwillingstürme im Sonnenuntergang. Es ist Mitte Oktober und noch warm. Tagsüber. Wenn die Lichter eingeschaltet werden, verschwindet die Wärme. Über die Williamsburg Bridge auf die andere Seite des Flusses. Auf der Webseite die Adresse: Williamsburg, 184 Kent Avenue, 5th Floor, 5B, Brooklyn, New York City. If I can make it there. Ein Office im Lagerhaus und zwei Luftmatratzen auf dem kalten Steinboden. Der Anfang von Aufwertung, eine Vorahnung von GIRLS und Rough Trade NYC. Die Fenster undicht und ein bisschen Toilettenwasser rinnt ununterbrochen abwärts. „Typisch New York“, sagst du, und das fühlt sich irgendwie gut an. Ich bin mir nicht sicher, sind das die Lichter der Großstadt durch die Rechtecke des Stahlsprossenfenster oder nur eine Fototapete? Wir sind zu zweit, im fünften Stock, mit nur einem Schlüssel und einer nicht funktionierenden Klingel unten. Mobiltelefon? Nein. Irgendwas mit dem deutschen Vertrag und dem amerikanischen Netz geht nicht zusammen. Du verschwindest und ich halte Nachtwache auf einem kackbraunen, aber schicken Bürostuhl, mit Kid A und Teaches of Peaches. Du kommst nicht und ich schlafe irgendwann ein. Nächster und übernächster Tag, keine Ahnung wo du bist. Ich bin auf dem Empire State Building, das die eine Nacht blau und die andere orange beleuchtet ist. Ich habe Geburtstag. In mein Notizbuch kritzele ich Wolkenkratzer und Flugzeuge. Ich fahre wieder hinab und zur Grand Central Station. Dort kaufe ich ein Zugticket nach [/pəˈkɪpsi/] und ein wenig auch in die Vergangenheit. Irgendwann hören wir auf, uns das Office zu leisten. If I can make it there, I'll make it anywhere.
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Helme, Schlagstöcke und Schäferhunde vor Helmen, Schlagstöcken und Schäferhunden. Aufgereihte Polizisten vor einem Plakat der Kunsthalle. Die Palette: Dog Planet, Lonely Old Slogan und Kein Gespenst geht um. Wir reihen uns kurz vor der Brücke und hinter dem Black Block in die Demo ein. Deine wasserstoffblonden Haare und meine türkisfarbene Regenjacke stechen später in der Berichterstattung aus der Menge.
Zehn Jahre später kreisen Hubschrauber tagelang über der Stadt. Ich lande gleichzeitig mit der Maschine des Präsidenten. Du bist besorgt. Wie ich nach Hause komme? Wird schon, mach dir keine Sorgen! Ich trage wirklich nie meine italienischen Schuhe (ein Urlaubskauf), die mit der Schnalle und den Ledersohlen. Heute klackern sie auf dem Marmor der Ankunftshalle. Ich gehe nach draußen. Nachdem klar ist, dass mich weder Taxi noch Bahn nach Hause bringen werden, gehe ich einfach los. Die Straßen sind leer oder in eine Richtung leer und in die andere überfüllt. Wie ein Parkplatz, auf dem aber alle im Auto sitzen bleiben oder vor ihrem Auto stehen. Ein Konvoi aus schwarzen Minibussen durchbricht das allgemeine Stillhalteabkommen für einige Sekunden. Dann ist wieder Stille. Ein Fahrrad. Ein Mann fährt, eine Frau sitzt auf dem Lenker und filmt die autofreie Allee.
Nach ungefähr zweieinhalb Stunden und acht Kilometern finde ich doch noch ein Taxi.
Als das ganze Spektakel vorbei ist, wirkt das Viertel aufgeräumt wie selten zuvor. Eine Bank, ein Drogeriemarkt, ein Supermarkt und ein Computer-Entertainment-Peripherie-Laden sind ausgebrannt oder geplündert. Die Stimmung kommt mir trotzdem heiter vor. „Hallo Nachbarn! Wir räumen auf und sind bald wieder für Sie da.“ / „Wir laden Sie am kommenden Mittwoch herzlich ins Restaurant nebenan ein. Diskutieren Sie mit uns, wie Sie sich Ihre neue Filiale wünschen.“ / „Danke an die BewohnerInnen von Haus Nummer 41 und v.a. Susanne, dafür dass ihr uns geholfen habt, zu verhindern dass unser Laden geplündert wird.“ / „KAUF DICH GLÜCKLICH! OUTLET! 30% AUF SCHWARZ!“ Wir gehen an Schildern vorbei. Ein weißer Bus mit Touristen fährt vorbei. Die Insassen fotografieren durch die getönten Scheiben. Zurück in unserem Hinterhof. Dank der geschützten Lage wurden wir völlig verschont und können weiter Agentur spielen.
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Am 11. August verdunkelt sich die Sonne. Wir sind im Süden und schauen in den Himmel. Ein schwarzer Kreis mit Strahlenkranz. Zurück im Norden wird ein neues Server Rack angeliefert. Well, it may be the devil or it may be the Lord, but you're gonna have to serve somebody. Kommt das aus der Küche oder aus den Boxen? Nein, ja, genau, dieser Ton, dieses Geräusch. Ach so, Musik, Pan Sonic, okay, kannte ich nicht.
Über dem Kellereingang weht noch nach Jahren die rot-schwarz-rote Fahne mit den drei weißen Andreaskreuzen im mittleren horizontalen Streifen. Ich halte sie für unsere Fahne. So, wie ich die Regenbogenaufkleber für ein Bekenntnis zum Umweltschutz hielt – bis mit jahrelanger Verspätung die Leute vom Growshop kommen, um ihre Fahne ab- und mitzunehmen. Auf dem Klo liegen Streichhölzer, denn es gibt noch keine Duftsprays. Zumindest bei uns nicht. An vielen Arbeitsplätzen und in nahezu allen Terminen wird geraucht. Raucher und Kiffer gestalten und programmieren für Connoisseur-Kunden von Tabak-Kunden. Niemals die Tastatur umdrehen!
Ahead of the *.wav, farmers manual und glitches, bleeps und sich wiederholende Schallwellen fließen aus den Yamaha-Türmen. Keine Stimmen. Kühl. Kein Gefühl. Okaygut, le chien qui mange la rue, sowas hat auch Gefühl.
Neue E-Mail, spam@*, Betreff: Kommen heute noch Kunden? Man kann riechen, dass kein Besuch mehr angekündigt ist. Der Geruch steigt aus den unteren Räumlichkeiten die Treppen empor. Du suchst meinen Rat, eine Abmahnung, „Der Mitarbeiter hat entgegen der betrieblichen Vereinbarung vor 16:00 Cannabis konsumiert.“ Die Abmahnung wird nicht ausgehändigt. Aber die Tschicks werden schrittweise ausgelagert. Nur noch abends. Nur noch in der Küche. Nur noch in Hof und Keller. Bald darauf verbietet der Staat (das sind wir) das Rauchen fast überall. Bis auf Bierzelte. Raucherclubs. Draußen. Nach 22:00 Uhr. Glaskästen mit Abzugshaube.
Am 20. März, 16 Jahre nach der absoluten Sonnenfinsternis, haben wir wieder Aussicht auf einen Black Star. Es wird nicht so absolut, aber gut. Die Sonne im Rücken blicken wir in die Stahlsprossenfenster und sehen in einer geometrisch aufgeteilten Spiegelung, wie sich ein dunkler Kreis langsam über einen hellen schiebt. Im Keller steht noch immer das Skelett des Server Racks. Es hat nie gedient. Weder Gott noch Teufel.
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Du bist Deutschland. Das finden wir natürlich doof. Alle. Wir haben doch den Euro und offene Grenzen. Dann ist die Welt zu Gast bei Freunden. Das finden wir irgendwie auch doof. Zumindest einige. Andererseits spannen wir im Hof eine Leinwand und schauen alle Spiele. Es sind sogar Trikots am Start. Mit einem schwarzen Gigi-Buffon-Trikot macht man sich allerdings nicht so viele Freunde. Und die ganz kritischen sind für Schweden. Zuhause wird eine Grill-Einladung anlässlich eines der Viertelfinale mit dem Hinweis abgelehnt, „Liebe Nachbarn, Im nationalen Wir fühlen wir uns nicht zuhause. Ihr könnt’ aber unseren Strom nutzen. Viel Spaß!“ Ich denke an das Gerücht, im Haus nebenan habe mal ein RAF-Terrorist Unterschlupf gefunden. Dort lebte auch mal eine Familie mit dem schönen Namen Honig. An die Honigs erinnern in den Gehweg eingelassene Stolpersteine. Wir, oder besser die Mannschaft (obwohl ‘Die Mannschaft’ finden wir auch schon wieder doof), werden dritter Sieger und Italien Weltmeister. Damit ist alles und sind alle irgendwie chico.
Zwei Jahre später geht dann die Sonne im Westen auf und Frank Shepard Fairey und Barack Hussein Obama II zeigen uns, wie Hoffnung aussieht, und wie man eine Internet-Kampagne macht. Obama wird trotz seines Mittelnamens und trotz des Verdachts, gar kein US-Amerikaner zu sein, der 44. amerikanische Präsident.
Wir sind auf einer Wahlparty. Allen ist klar, die Welt ist heute eine bessere geworden. Von nun an wird sich alles zum Guten wenden. Hope.
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