Hallo Flo, wie bist du damals auf die Idee gekommen, Kurzgeschichten in 140 Zeichen zu erzählen?
Das war tatsächlich eine Bierlaune. Im Oktober 2009, zu einer Zeit, als Twitter in Deutschland gerade ein bisschen an Fahrt aufnahm. Damals hab ich noch als Creative Director in einer Werbeagentur gearbeitet. Und das Thema Social Media wurde immer präsenter. Eines Tages – in einer Bar – fragte ich mich dann: „Könnte man eigentlich eine komplette Geschichte in Tweet-Länge erzählen...?“ Und schrieb die erste Tiny Tale auf:
Das war der Startschuss. Was danach passierte war ziemlich unglaublich. Die Tiny Tales
gingen in kürzester Zeit viral ...
Sind dir die Ideen meistens einfach zugefallen oder musstest du teilweise lange über den nächsten Beitrag nachdenken? Wieviel Zeit braucht eine Geschichte ungefähr bis du sie perfekt findest?
Das war sehr unterschiedlich. Die Grundidee kam meist schnell. Tricky wurde dann das komprimierte schreiben. Denn die Geschichte darf ja nicht nur aus höchstens 140 Buchstaben bestehen. Sie muss außerdem spannend erzählt und gut geschrieben sein. Wie ein dreistündiger Kino-Blockbuster folgt auch eine Tiny Tale der Grundstruktur aller Geschichten: Exposition. Konflikt. Auflösung. Nur eben sehr verdichtet und „schlaglicht- artig“ komprimiert. Die Tiny Tales sind in ihrem Gefüge Witzen nicht unähnlich. Sie bauen eine Erwartungshaltung auf und der Twist zündet ganz am Schluss – optimalerweise im letzten Wort. Oft habe ich eine Tiny Tale in einer Minute geschrieben, manchmal in einer Stunde. Einige sind bis heute unvollendet. Obwohl die Geschichten toll sind. Aber die Zeichengrenze ist gnadenlos – 141 Buchstaben ist einer zu viel.
Gab es einen bestimmten Moment, an dem die Twitter-Community auf dich aufmerksam wurde, oder wuchsen deine Follower kontinuierlich?
Das ging ziemlich schnell. Schon nach einer Woche wunderte ich mich erfreut über die vielen Retweets. Dann tauchte der Account in den ersten Blogs auf. Wurde auf Twitter selbst gefeiert. Und wurde dann nach und nach im jungen Social Web immer bekannter. Die Follower-Zahlen wuchsen rasant. Der große Push kam dann allerdings, nachdem die TINY TALES 2010 den Grimme Online Award gewannen. Weil sie dann schlagartig die Social Media Welt verließen. Plötzlich wurde das Projekt in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen besprochen. Und dann kamen die Verlage. Alle großen wollten die TINY TALES unbedingt als Buch veröffentlichen. Mit dem S. Fischer verlag hab ich dann letztendlich den Deal gemacht. Und für das Buch nochmal exklusiv 100 neue Geschichten geschrieben. Kurz nach dessen Launch saß ich dann in TV TOTAL auf der Couch bei Stefan Raab. Und am nächsten Morgen war eine komplette Auflage ausverkauft. Mehr ging nicht. Und nach diesem Peak habe ich dann einfach aufgehört. Ich habe das Projekt damals nie offiziell beendet (es gibt auch den Account noch: twitter.com/tiny_tales), aber irgendwie fühlte es sich wie der richtige Zeitpunkt an, aufzuhören.
Weißt du, wieviele Tiny Tales du inzwischen geschrieben hast?
Ungefähr 300.
Hast du eine Lieblingsgeschichte?
Mehrere. Dies sind drei meiner eigenen Favorites:
Meinst du, deine Tiny Tales würden auch heute noch, mit 280 Zeichen bei Twitter, funktionieren?
Lange nicht so gut. Denn es ist ja gerade die extreme Verdichtung, die den Reiz der Tiny Tales ausmacht. Und die wäre mit 280 Zeichen ja nicht mehr so drastisch.
Hättest du vielleicht exklusiv für uns unveröffentlichte Tales?
Ich habe gerade mal in meinem alten Ideen-Dokument gewühlt. Hier sind vier, die ich nie veröffentlicht habe:
Das Pulver löste sich innerhalb weniger Sekunden auf. Scheu lächelnd stellte sie das Glas auf den Tisch. „Königliche Hoheit? Ihr Wein.“
Der Meteor hatte Nordamerika verwüstet. Die Fernseher der Welt sendeten live die
ersten Luftbilder. Am Boden des Kraters glänzte Stahl.
„Nichts passiert Schatz, ich hab sie.“ Behutsam zog Kyra die Zecke aus der
Kopfhaut. Die Nanosonde war bereits auf dem Weg ins Großhirn.
Die 300 Passagiere schliefen, als der Towerfunk verstummte. Jack sah aus dem
Cockpitfenster. Aus er weißen Wolkendecke wuchs ein Atompilz.
Du hast eigentlich seit Jahren keine Geschichten mehr veröffentlicht, aber dennoch beschäftigt dich das Projekt Tiny Tales bis heute. In welcher Form?
Bis heute bekomme ich „Fanpost“. Leser, die mir Mails schreiben, oder Facebook- und Twitter-Nachrichten, in denen sie fragen, ob es jemals wieder Tiny Tales geben wird. Kürzlich meldete sich eine Frau, die sich tagelang mit ihrem Mann gestritten hatte über eine bestimmt Geschichte im Buch. Und wie die Auflösung denn nun gemeint war. Ein tolles Phänomen übrugens, das mir selbst erst im Laufe des Projekts anhand von Leser- Kommentaren aufgefallen ist: Viele der Geschichten haben durchaus mehrere und völlig verschiedene Deutungs-Möglichkeiten.
Die Tiny Tales und mein Buch sind außerdem Teil des Deutschunterrichts an vielen Schulen. Ich habe in den letzten Jahren auch ein paar Worshops und Lesungen mit Schülern gemacht. Auf Amazon kann man eine „Fachdidaktische Untersuchung der Tiny Tales“ kaufen. Sowas macht mich natürlich stolz. Zumal es ein Projekt war, dass ich ganz alleine und zunächst nur aus Spaß gemacht habe.
Dieses Jahr willst du die Tiny Tales fortsetzen. Allerdings in anderer Form. Was hast du genau vor?
Ich habe die Idee lange mit mir herumgetragen und möchte sie nun umsetzen. Ich wil drei der Tiny Tales verfilmen. Als „die kürzesten Spielfilme der Welt“. Mal sehen ob die Verdichtung im bewegten Bild genauso gut funktioniert. Die Tiny Drehbücher gibt es bereits. Momentan spreche ich mit interessierten Produktionsfirmen.
Florian lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Düsseldorf. Sein Background liegt in der Agenturwelt, wo er als Art Director und Creative Director für globale Networks tätig war. 14 Jahre lang kreierte und betreute er internationale Kampagnen, bevor er sich schließlich seinen Lebenstraum erfüllte: Als Regisseur dreht er Commercials, Virals, Dokus, Webisodes und Musikvideos.