Wir arbeiten mit Websites, täglich gibt es unendliche Relaunchs, damit der Internetnutzer zufrieden ist. Beim Menschen ist das nicht so einfach, er ist viel komplexer: In Zeiten zunehmender psychischer Erkrankungen – ist es da möglich, seine Psyche einem „Relaunch“ zu unterziehen?
Kein Designer kann uns ein bezauberndes, ehrliches Lächeln aufs Gesicht photoshoppen, kein Programmierer einen Code schreiben, mit dem er unsere Motivation wieder zum Laufen bekommt, kein Konzepter unsere Lebensart und -freude so aufbereiten, dass wir wieder funktionsfähig sind, wenn wir eben nicht „funktionieren“. Wenn es uns mal nicht gut geht. Eine Maschine, ein Roboter, ein technisches Gerät – Nein, das sind wir ganz sicher nicht.
Warum hat der Mensch trotzdem das Gefühl, er müsse ständig „funktionieren“? Nicht selten führen dieses Denken und der starke Druck dahinter zu einer psychischen Erkrankung. Die Zahl der Menschen, die an Depressionen oder anderen psychischen Krankheiten leiden, steigen nach Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK von Jahr zu Jahr rasant an. Jedes Jahr erkranken 28% der deutschen Erwachsenen an einer psychischen Störung (laut DEGS Studie). Das entspricht ungefähr 17,8 Millionen Menschen.
Etwa 19% der 17,8 Millionen Menschen in Deutschland haben sich getraut, Hilfe zu suchen. Sei es, dass sie die Symptome eines Burnouts wahrgenommen haben oder aus anderen Gründen den Sprung über die beängstigende Schlucht hin zum Eingeständnis schafften. Doch noch immer gibt es eine große Dunkelziffer: Nur jeder dritte Betroffene gab in einer repräsentativen Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland an, dass er mit seinen Symptomen einen Gang zum Arzt oder Therapeuten gewagt hat. Die wenigsten werden demnach von Psychologen professionell behandelt. Das Nichtbehandeln wiederum kann dazu führen, dass die Krankheiten einen langjährigen chronischen Verlauf annehmen.
Woran liegt es, dass noch immer so viele Menschen ebendiese Hilfe nicht wahrnehmen wollen, sich gar dafür schämen? Wovor haben sie Angst? Vielleicht ist es die Angst davor, nicht ernstgenommen zu werden, erneut zu versagen, eben nicht zu funktionieren, in einer Gesellschaft, die aber genau das fordert. Die Angst davor, dass man anders behandelt und bemitleidet werden oder sogar den Job verlieren könnte. Es braucht viel Mut, sich sein Problem einzugestehen und schließlich offen darüber zu sprechen.
Etwas, was sie als weitere Hürde wahrnehmen, ist möglicherweise, dass psychische Probleme nichts wirklich Greifbares sind. Trotzdem aber sind sie da. Sie sind real, genauso wie Knochenbrüche, Rückenschmerzen, Schleimhautentzündungen oder Herzkrankheiten. Aber während bei physischen Krankheiten die Ursache im besten Fall schnell erkannt ist und operativ, mit Medikamenten oder Physiotherapie behandelt und das Leid beseitigt werden kann, bleiben die Hintergründe von psychischen Erkrankungen meist in der Seele, im Inneren des Menschen, verborgen. Das erschwert die Diagnose und Behandlung. Zu oft schafft es auch der Betroffene, noch auf den letzten Metern alles zu geben, sein Leid zu verstecken und es selber gar nicht wahrhaben zu wollen. Und niemand hätte am Ende gedacht, dass es tief in ihm doch ganz anders aussieht.
Im 19. Jahrhundert wusste man nicht recht mit diesen nicht-greifbaren Krankheiten umzugehen und stempelte Patienten als verrückt ab oder sperrte sie im schlimmsten Fall weg, fernab von der Zivilisation. Im Nationalsozialismus wurden psychisch Kranke mit unmenschlichen Methoden aus dem Weg geräumt: Ärzte und Pfleger setzten ihnen tödliche Spritzen. Die Belastung, die sie darstellten, sei einfach zu groß gewesen. Ein paar Jahrzehnte später versorgte man Kranke immerhin mit Medikamenten. Aber wirklich, um ihnen zu helfen oder nur in der Hoffnung, dass sie nicht wiederkommen würden? Ärzte waren diesen tiefgründigen, nicht-körperlichen Krankheiten scheinbar noch nicht gewachsen. Während die Medizin bei physischen Erkrankungen große Fortschritte machte, kam sie hier nicht weiter. Cornelia Brink setzte sich mit diesem Thema in „Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980“ auseinander.
Heute sieht es zum Glück schon ganz anders aus. Es wird nicht weggeschaut, dem Leid der Betroffenen wird sich mehr und mehr angenommen.
Doch trotzdem, psychische Krankheiten haben eine unschöne Vergangenheit hinter sich, die wohl, von Generation zu Generation weitergegeben, noch nicht ganz aus unseren Köpfen raus ist. Das zeigt sich in der Angst der Betroffenen vor dem Gang zum Arzt oder Therapeuten. Und schließlich in der Angst vor der Reaktion der anderen: der Familie, dem Bekannten, der Arbeitskollegen, des Arbeitgebers. Wäre das bei einer physischen Erkrankung genauso?
So viele Gefahren lauern scheinbar noch immer. Doch 19% der 17,8 Millionen Menschen haben eingesehen, dass es ohne Hilfe nicht mehr geht. Und vielleicht haben sie sogar herausfinden dürfen, dass – zumindest ein Großteil – dieser Gefahren nur im Kopf entstanden ist. Und dass sie sich gar nicht als wahr herausgestellt haben.
Leider müssen sich Leidtragende nach diesem Schritt trotzdem noch auf lange Wartezeiten einstellen, denn Therapieplätze sind rar. Und ist ein Platz schließlich ergattert, gibt es keine Garantie für einen erfolgreichen „Seelen-Relaunch“, für ein „neues Selbst“, eine komplett neue, optimistischere Einstellung oder gar ein rundum angst- und sorgenfreies Leben.
Dennoch, eine Therapie kann helfen. Sie kann viel bewirken. Sie wird wahrscheinlich nicht das ganze Leben auf seine „Werkseinstellungen“ zurücksetzen können und aus dem Betroffenen einen neuen Menschen machen. Aber sie kann ihn verändern, hier und da etwas bearbeiten und in der Seele ein paar Farbtupfer verteilen, dass sie nicht mehr so tiefschwarz ist. Die Therapie kann zwar neue Trauer, Wut und Scham auslösen, aber gleichzeitig auch augenöffnende Erkenntnisse mit sich bringen.
Die Elektrokonvulsionstherapie – eine umstrittene Therapiemethode
Neben konventionellen Methoden wie Gesprächs-, Verhaltens- oder tiefenpsychologisch fundierten Therapien, in denen belastende Erfahrungen mit einem Psychologen aufgearbeitet werden, gibt es auch unkonventionelle, eher kritisch beäugte. Zu ihnen wird gegriffen, wenn mit Sicherheit keine andere Lösung für das Problem zu finden ist und schon alles versucht wurde, das gewünschte Resultat aber ausblieb.
Eine dieser unkonventionellen Methoden ist die Elektrokonvulsionstherapie (kurz EKT). Sie soll gegen starke, schwer behandelbare Depressionen wirken. Das Vorgehen soll besonders nebenwirkungsarm und schmerzfrei sein. Bereits nach sechs bis 12 Behandlungen soll der „Gehirn-Relaunch“ vollzogen und der Mensch geheilt sein. Wie funktioniert das?
Unter kurzer Vollnarkose mit Sauerstoff-Beatmung wird mit maximal sechs Sekunden andauernden schwachen Stromimpulsen ein epileptischer Anfall ausgelöst. Ein Medikament zur Muskelentspannung sorgt währenddessen dafür, dass beim Verkrampfen keine Verletzungen entstehen. Bei den schwer depressiven Menschen sind die Nervenzellen funktionell hypervernetzt. Durch die Behandlung verschwindet genau diese interne Hypervernetzung, die dafür verantwortlich ist, dass sich der Betroffene weniger mit der Außenwelt beschäftigt als andere. Denn durch das Abkapseln von der Umwelt entsteht ein Teufelskreis aus Einsamkeit, Angst und Unsicherheit, aus dem er nicht mehr so leicht entkommen kann. Die EKT soll helfen, diesen ersten Schritt aus der Dunkelheit voranzutreiben. Zusätzlich wachsen mithilfe der Elektrokrampftherapie neue Nervenzellen, wodurch stimmungsaufhellende Botenstoffe frei werden.
Das Vorgehen klingt in manchen Ohren nach gruseligem Mittelalter-Folter-Ritual. Doch die Elektrokonvulsionstherapie wird mittlerweile immer häufiger eingesetzt: In Deutschland gibt es bereits 183 EKT-Zentren, in denen pro Woche durchschnittlich drei Behandlungen durchgeführt werden. Und dank der Forschung und des dadurch weit fortgeschrittenen Stands in der Medizin, seien längerfristige Gefahren und Nebenwirkungen für den menschlichen Körper weitgehend ausgeschlossen. So die Aussage des Forschungsteams der University of Aberdeen, welches sich seit Längerem intensiv mit EKT beschäftigt. Mit einer Erfolgsquote von 50 bis 70 Prozent geheilten Patienten ist die Elektrokrampftherapie zurzeit die effektivste antidepressive Behandlungsmethode bei starken, schwer therapierbaren Störungen. Kritisch betrachtet wird sie aber trotzdem noch.
Was können wir für andere tun?
Die Awareness fürs Seelenleiden ist unserer Zeit definitiv höher als noch vor ein paar Jahrzehnten. Was aber können wir, was kann jeder Einzelne von uns tun, wenn wir bemerken oder sogar direkt gesagt bekommen, dass es jemandem nicht gut geht? Es muss vielleicht gar nicht so weit kommen, dass sich dieser Mensch in einem Kampf um einen Therapieplatz behaupten muss oder sein Gehirn Stromstößen aussetzt.
Die Aufmerksamkeit und der Respekt für Krankheiten psychischer Natur muss noch weiter steigen. Denn noch immer wird in physische Krankheiten mehr investiert, was Forschung und Behandlung betrifft. Ist sich ein Betroffener darüber bewusst, dass seine psychisch bedingte Erkrankung also „weniger Wert“ ist, fällt der, ohnehin schon mit Scham behaftete Gang zum Arzt, noch schwerer. Auch die langen Wartezeiten auf einen Therapieplatz schrecken ab. Und so lassen es viele doch lieber ganz. Aber genau das füttert die Krankheit nur mehr, als dass es sie verschwinden lässt. Der Mensch versucht vielleicht, seine Symptome zu ignorieren. Sie sind ja nicht greifbar, also eben auch gar nicht existent, oder? Trotzdem geht es ihm nicht gut. Er kann nichts dagegen machen. Ein Teufelskreis.
Bis professionelle Hilfe nötig und auch möglich ist, können wir dem Leidtragenden die Hand reichen und zumindest versuchen, ihn aus diesem Teufelskreis zu befreien. Ihm zeigen, dass wir sein Leid als „echtes Leid“ sehen, wofür er sich nicht zu schämen braucht. Dass es Hilfe gibt und dass auch ihm geholfen werden kann. Sein „Seelen-Relaunch“ muss dabei nicht als komplettes Reset verstanden werden, er muss nicht alles aufgeben, um neu anzufangen, muss sich nicht neu erfinden. In manchen Fällen können wir alle schon mit kleinen Taten einen großen Teil zur psychischen Gesundheit vieler beitragen.